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Impulsgeberin

Beyond Science

Wie gelangt Nahrung vom Magen durch den Verdauungstrakt? Was treibt diese Reise an? Eppendorf-Preisträgerin Marissa Scavuzzo sucht Antworten.

Plötzlich macht es Klick – und eine neue Idee ist geboren. Marissa Scavuzzo kennt das. „Erst wenn ich nicht im Labor über einem speziellen Problem brüte, fliegen mir die besten Ideen zu“, so die 36-jährige Entwicklungsbiologin. Das könne beim Spielen mit ihrer zweieinhalbjährigen Tochter Lillo sein oder wenn sie mit ihrem Mann Andrew wandert. Und so entstand während einer Autofahrt die Idee, wie sie ihren Essay für das Wissenschaftsmagazin „Science“ anlegen könnte. Sie schickte sich eine Sprachnachricht, um nichts zu vergessen, und schrieb zu Hause alles zusammen. Bei den Feierlichkeiten anlässlich der Vergabe des Eppendorf & Science Prize for Neurobiology am 12. November 2023 in Washington betonte der Juryvorsitzende Peter Stern, dass ihr „hervorragender Artikel“ den Ausschlag für die Vergabe des Awards gab. Ihr Text trägt den eher rätselhaften Titel „The way you move“.
Doch bald erfährt die Leserschaft, um welche Art von Bewegung es sich handelt. Ein Auszug aus dem Essay: „Nehmen Sie einen großen Schluck Wasser, schließen Sie die Augen und spüren Sie nach, wie lange das Wasser durch die Speiseröhre rinnt! Ja genau, irgendwo in der Speiseröhre verlässt Sie die Wahrnehmung, und erst wenn sich im Enddarm der Stuhlgang ankündigt, nimmt man wieder aktiv am Nahrungstransport teil. Doch was passiert dazwischen, in dieser unbewussten Phase der Verdauung ...? Wer steuert die Bewegung, und wie geht das vonstatten?“

Viel mehr als bloß Klebstoff

Der Darm fasziniert die junge Forscherin. Um seinen Geheimnissen auf die Spur zu kommen, konzentriert sich Scavuzzo auf die Gliazellen, die neben Muskel- und Nervenzellen im Darmgewebe so häufig vorkommen und „von denen wir noch so wenig wissen“. Das griechische Wort Glia bedeutet „Klebstoff“. Gliazellen wurden seit ihrer Erstbeschreibung durch Rudolf Virchow im 19. Jahrhundert lediglich als Kitt im Gewebe verstanden. Heute weiß man, dass Gliazellen auch an Prozessen wie der Signalweiterleitung, der Bewegungsfähigkeit des Darms oder der Immunabwehr beteiligt sind.
Marissa Scavuzzo ist an der Case Western Reserve University School of Medicine in Cleveland im Labor von Paul Tesar angesiedelt, den sie als „einen der weltweit führenden Experten“ der Glia-Forschung bezeichnet. Ihr Mentor fokussiere sich auf Glia im Gehirn, sie habe sich auf Glia im Darm spezialisiert. Ihr Ziel: die spezifische Rolle von Gliazellen im Verdauungsprozess aufzuschlüsseln. Dafür sei es unabdingbar, Glia nicht länger als einheitliche Masse zu begreifen, sondern „die individuellen Funktionen der einzelnen Gliazellen zu bestimmen“. Nur dann könne man irgendwann gezielte Aussagen treffen, wie sich Gliazellen bei Darmerkrankungen veränderten.

Biografische Prägung fürs Thema

Das Thema begleitet die gebürtige Texanerin seit ihrer Kindheit. Ihre Mutter leidet an einer angeborenen verkürzten Speiseröhre, die mehrfach operiert wurde. Gespräche rund um die Verdauung gab es in ihrer Familie folglich häufig. Ursprünglich wollte Marissa auch deshalb Ärztin werden. Erst im College eröffnete sich ihr eine neue Perspektive. Allein der Gedanke, wie viele Menschen sie durch ihre Forschungsarbeit vielleicht retten könnte, spornte sie an. Außerdem liebt sie die kreative Seite der Forschung: „Auf etwas herumdenken, Irrwege gehen, neue Pfade erkunden: Das ist spannend wie eine Rucksackwanderung. Beides liebe ich.“
Ihre Forschung ähnelt tatsächlich einer Tour ins Unbekannte. Die Postdoktorandin hatte zunächst gar kein Rüstzeug, um Identität und funktionelle Vielfalt der Zellen zu untersuchen. Sie hatte sich ein schwieriges Terrain ausgesucht: Beim enterischen Nervensystem (ENS) – enterisch steht für Darm handelt es sich um ein komplexes Netzwerk von Neuronen und Glia, das umgangssprachlich auch als „zweites Gehirn“ bezeichnet wird. So dauerte es ein ganzes Jahr, bis Scavuzzo neue zelluläre und molekulare Technologien entwickelt hatte, mit denen sie sich mit ihrem Team auf Forschungsreise begeben konnte.

Glia-Forschung noch in den Kinderschuhen

Dabei entdeckten die Forschenden einen speziellen Subtypus von Darm-Glia – Zellen, die sich in Muskelschichten befinden und die Scavuzzo als „enterische Glia-Hub-Zellen“ bezeichnet. Ihren „Science“-Artikel bebildert sie mit einer dreidimensionalen Abbildung dieses spezifischen Zelltypus, der dank des Einsatzes eines Proteins grün leuchtet. Ihr Foto zeigt eindrücklich, wie sich Glia in Muskel- und Nervenzellen verwebt. Unter dem Mikroskop konnte sie außerdem zeigen, dass die Peristaltik erlahmt, wenn diese Glia-Hub-Zellen aus dem Mäusemuskeldarmgewebe herausgeschnitten werden. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass diese Glia-Hub-Zellen tatsächlich für die Feinabstimmung der wellenförmigen Bewegung im Darm zuständig sind.
Aber wie hört diese Bewegung auf? „Im Zusammenspiel mit Muskeln- und Nervenzellen stimmen die Glia-Hub-Zellen die rhythmischen Kontraktionen fein ab, ohne dass das Gehirn involviert wäre“, so Scavuzzo. Sie fungierten wie ein Biosensor, der den Darminhalt wahrnimmt und sich bei Krafteinwirkung auf eine Zellmembran hin öffnet.
Marissa Scavuzzo ist dankbar für den Eppendorf-Preis. Sie hofft auf Mitstreiter, die in dieses Feld, das noch in den Kinderschuhen steckt, einsteigen. Bis zur Entwicklung medikamentöser Therapien für Darmerkrankungen sei es noch ein langer Weg von mindestens 10 bis 20 Jahren, meint die Entwicklungsbiologin. Bis dahin werde sie weiter Darm-Glia kartieren und ein eigenes Labor gründen – und das voraussichtlich schon im kommenden Jahr.

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Zur Person

Marissa Scavuzzo forscht in der Abteilung für Genetik und Genomforschung der Case Western Reserve University School of Medicine in Cleveland, Ohio. Die US-Amerikanerin wurde 2023 mit dem Eppendorf & Science Prize for Neurobiology ausgezeichnet. Unter anderem mit ihrem Ehemann Andrew hat sie 2019 „Rise Up: Northeast Ohio“ gegründet, ein Nonprofit-Institut, das die Chancengleichheit in Bildung und Wissenschaft verbessern möchte.

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